Österreich & Osteuropa: Coronakrise stellt enge Wirtschaftsbeziehungen vor die größte Zerreißprobe seit den 1990er-Jahren.

10 September 2020

Das wiiw präsentiert seine neue Studie zu Österreichs Wirtschaftsbeziehungen mit Osteuropa - wirtschaftliche Effekte der Krise und ihre längerfristigen Folgen

Einige der wichtigsten osteuropäischen Wirtschaftspartner Österreichs sind von der Coronakrise besonders stark betroffen. Obwohl der Tiefpunkt des ersten Schocks überwunden scheint, könnten erneut steigende Infektionszahlen einen weiteren wirtschaftlichen Abschwung in der Region und damit einen Rückschlag für Österreich nach sich ziehen. Mittelfristig könnte die Krise jedoch einen wirtschaftlichen Wandel in den Ländern in Mittel-, Ost- und Südosteuropa (MOSOEL) auslösen, von dem auch Österreich profitieren kann.

Abbildung: Aktuelle COVID-Entwicklungen

Quelle: Weltgesundheitsorganisation (WHO), WHO Coronavirus Disease (COVID-19) Dashboard, Stand 1. Sept. 2020; Berechnung und Darstellung des wiiw. Anmerkung: 7-Tages-Durchschnitt.

Die wichtigsten Studienergebnisse in Kürze:

  • MOSOE erlebt das schlechteste Wirtschaftsjahr seit Mitte der 1990er-Jahre, mit unmittelbaren Auswirkungen für österreichische Unternehmen und Banken, die mit beträchtlichen Investitionen in der Region vertreten sind. In zwölf MOSOEL gehört Österreich zu den Top 5 Investoren, in weiteren vier Ländern reiht es sich unter die Top 10.
  • Österreich ist auch der drittgrößte ausländische Investor in Belarus, wodurch seine Unternehmen der anhaltenden politischen Krise und ihren potenziellen wirtschaftlichen Auswirkungen ausgesetzt sind. Österreichs Anteil an den ausländischen Investitionen belief sich im Jahr 2019 auf 11,4% und war damit mehr als viermal so hoch wie der Anteil Deutschlands.
  • Einige der wichtigsten Wirtschaftspartner Österreichs in MOSOE, wie etwa Kroatien und die Slowakei, sind aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Tourismus oder vom Außenhandel besonders stark betroffen. Der erwartete Wirtschaftseinbruch um rund 10% fällt damit deutlich stärker aus als nach der Wirtschafts- und Finanzkrise im Jahr 2008.
  • Die Bedeutung der MOSOE für die österreichische Wirtschaft wird in der Coronakrise besonders deutlich sichtbar. Österreich ist in hohem Maße von Arbeitsmigration aus der Region – auch für systemrelevante Berufe – abhängig. Zudem spielen sie als Herkunftsländer für den Tourismus eine wichtige Rolle.
  • In den meisten Volkswirtschaften in MOSOE ist die akute Krise voraussichtlich überstanden. Eine Erholung wird ab dem kommenden Jahr erwartet, wobei Wirtschaftsprognosen in der aktuellen Ausnahmesituation mit großer Unsicherheit behaftet sind.
  • Steigende Infektionsraten in einige MOSOEL und die bevorstehende kältere Jahreszeit bergen jedoch die Gefahr, dass sich die epidemiologische und wirtschaftliche Situation wieder verschlechtern und weitere negative Auswirkungen auf österreichische Investoren, Banken und letztlich auch auf die heimische Wirtschaft haben könnte.   
  • Die Krise hat die Digitalisierung in MOSOE stark beflügelt. Dadurch könnte sich das Wirtschaftsmodell der Region weiter entwickeln, wovon auch Österreich profitieren würde.
  • Bemühungen internationale Wertschöpfungsketten krisenresistenter zu gestalten könnten zu einer Diversifizierung der Handelspartner und verstärktem „Nearshoring“ führen, was den MOSOEL und insbesondere dem Westbalkan zugutekäme.

Der Welthandel hat einen größeren Schock erlitten als nach der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09. Exportabhängige Volkswirtschaften wie Österreich und viele seiner MOSOE-Partner sind stark betroffen. Für Länder, deren Wirtschaft vom Tourismus und dem internationalen Handel abhängt, fielen die Wirtschaftsprognosen heuer besonders negativ aus. Dazu zählt etwa Kroatien (mit einem erwarteten Rückgang des realen BIP um 11% lt. wiiw Prognosebericht), für welches Österreich kürzlich eine Reisewarnung erlassen hat. Handelsabhängige Volkswirtschaften wie die Slowakei (-9%) und Ungarn (-5,5%), die beide zu den wichtigsten Wirtschaftspartnern Österreichs zählen, werden ebenfalls starke Rückgänge des BIP hinnehmen müssen.

Abbildung: BIP-Wachstumsprognosen in Österreich und MOSOEL, 2020

Quelle: EBRD, EC, ECB, Glocker/WIFO, Grieveson/wiiw, Weltbank, Darstellung des wiiw; Anmerkung: Länder sortiert nach der pessimistischsten Prognose pro Region. Die grau hinterlegte Fläche entspricht der Bandbreite der Wachstumsprognosen für Österreich.

Mit der Automobilbranche kommt ein Herzstück der europäischen Industrie ins Wanken. Während sich Umsätze von Gütern des täglichen Bedarfs vorteilhaft entwickeln, sind Dienstleister und der Einzelhandel noch weit vom Normalzustand entfernt. Die deutsche PKW-Produktion ist im ersten Halbjahr 2020 um 40% auf das niedrigste Niveau seit 45 Jahren eingebrochen. Durch die starke Integration in die Wertschöpfungsketten der (insbesondere deutschen) Automobilindustrie kommt die herstellende Industrie in Österreich und den MOSOEL zusätzlich unter Druck.

Zwei Drittel der Auslandsforderungen österreichischer Banken entfallen auf die MOSOEL Die damit verbundenen Risiken scheinen bislang jedoch nicht so groß wie zur Zeit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09. Insgesamt war laut Österreichischer Nationalbank im letzten Jahr die Gesamtkapitalrentabilität der Tochterbanken in MOSOEL mit 1,3% fast doppelt so hoch wie die Gesamtkapitalrentabilität österreichischer Banken von 0,7%. Österreichische Banken sind besonders gegenüber den osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten und Russland stark exponiert.  Der tatsächliche Kriseneffekt wird erst ab dem Jahr 2021 in den Statistiken sichtbar sein, da die meisten Länder Zahlungsaufschübe für Zins- und Kapitalrückzahlungen vorsehen, um Insolvenzen vorzubeugen.

In zwölf MOSOEL gehört Österreich zu den Top 5 Investoren, in weiteren vier Ländern reiht es sich unter die Top 10. In der Hälfte der MOSOEL ist der Investitionsanteil Österreichs größer als jener Deutschlands, obwohl die deutsche Wirtschaft rund zehnmal größer ist als die österreichische. Besonders hervorzuheben ist die Stellung österreichischer Investitionen in Slowenien und Kroatien. Im Jahr 2019 kam über ein Fünftel aller ausländischen Direktinvestitionsbestände aus Österreich, mit einem Anteil von 24% in Slowenien und 23,4% in Kroatien. Auch in Bosnien und Herzegowina (18,6%), Serbien (13,1%), Nordmazedonien (12,9%), Rumänien (12,2%), der Slowakei (11,6%) und in Ungarn (10,6%) hat Österreich eine dominante Stellung. In Belarus belief sich Österreichs Anteil auf 11,4%; es war damit der drittgrößte Investor. 

Eine krisenbedingte Verlangsamung der Lohnkonvergenz ist zu erwarten, wodurch der österreichische Arbeitsmarkt für Osteuropäer weiterhin attraktiv bleibt sobald sich die Situation am österreichischen Arbeitsmarkt erholt hat. Die Diskrepanzen zwischen dem österreichischen und den osteuropäischen Lohnniveaus sind weiterhin erheblich. So reicht das Spektrum der Lohnniveaus zu Kaufkraftparitäten von 25% für die Ukraine bis 71% für Slowenien. Berechnet als einfacher Durchschnitt über einzelne Länder ergibt sich ein Lohnniveau von 30% des österreichischen für die Gruppe der GUS4 (plus Ukraine und Türkei), 50% für die Westbalkanländer und 59% für die osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten.

Die Einschränkung der Reisefreiheit trifft Unternehmen, auch in systemrelevanten Sektoren, die einen hohen Anteil grenzüberschreitender Pendler beschäftigen. Ein Drittel der österreichischen Berufspendler kommt aus Ungarn. In vielen systemrelevanten Berufen ist die physische Präsenz unumgänglich und der Beitrag ausländischer Arbeitskräfte in Österreich sehr hoch. Ausländische Arbeitskräfte repräsentierten etwa 60% der unselbständig Beschäftigten in der Landwirtschaft, über 30% in der Transportwirtschaft und im Bereich der Herstellung von Nahrungs- und Futtermitteln, sowie 18% der Alten- und KrankenpflegerInnen. Der Großteil dieser Arbeitskräfte stammt aus den MOSOEL.

Der österreichische Tourismussektor wurde im 2. Quartal dezimiert, aber eine teilweise Erholung der Nächtigungszahlen von Gästen aus Österreich und seinen Nachbarländern haben dem Sektor eine dringend benötigte Entlastung gebracht. Nach einem Einbruch der Nächtigungszahlen um über 90% im April gewinnt der österreichische Tourismus wieder langsam an Fahrt.  Wachstumsraten österreichischer Gäste waren im Juli erstmals wieder positiv (+15%). Nächtigungszahlen aus den wichtigsten MOSOEL zeigten ab Mai leichte Erholungszeichen; für Tschechien und Polen lagen sie im Juli jedoch noch 28% und für Ungarn 43% unter dem Vorjahresniveau. Dagegen bleiben Gäste aus den USA und China fast gänzlich aus. Kumuliert über die Monate März bis Juli hat die Coronakrise im Vergleich zu 2019 eine Lücke von -34 Millionen Nächtigungen (-55%) aufgerissen.

Seit Juni baut sich in manchen MOSOEL eine zweite und größere Krankheitswelle auf, die den beginnenden wirtschaftlichen Aufschwung gefährdet. In der ersten Septemberwoche wurden in Kroatien, Albanien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro und der Ukraine durchschnittlich mehr als sechsmal so viele Neuerkrankungen gemeldet als im April. Gleichzeitig wird noch immer nicht genügend getestet. Im Westbalkan, in Rumänien und der Ukraine steigen auch die Todesfälle wieder. Die geschrumpften Geldreserven könnten für viele Unternehmen und Haushalte, insbesondere in Südosteuropa, nicht reichen, um einen weiteren Lockdown zu überstehen.

Die gegenwärtige Krise wird wahrscheinlich ein bleibendes Erbe hinterlassen und die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Österreich und MOSOE nachhaltig verändern. Zum einen hat die Einschränkung der Mobilität und die Notwendigkeit, innerhalb kürzester Zeit von physischer Präsenz auf digitales Arbeiten umzusteigen, den Megatrends der Digitalisierung und Automatisierung einen zusätzlichen Schub verliehen. Zum anderen könnten die Bemühungen globale Wertschöpfungsketten krisenresistenter zu gestalten und Risiken von Produktions- und Lieferunterbrechungen zu minimieren zu einer Diversifizierung der Handelspartner führen. Von verstärktem „Nearshoring“, d.h. der teilweisen (Rück)Verlagerung betrieblicher Aktivitäten ins nahegelegene Ausland, könnten die MOSOEL und insbesondere der Westbalkan maßgeblich profitieren. 


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