In memoriam Dionys Lehner (1942–2023)

02 May 2023

Am 18. April ist das wiiw-Vorstandsmitglied Dionys Lehner im Alter von 80 Jahren verstorben. Der Industrie-Visionär und Wissenschafts-Mäzen war ein wahrer Freund und großer Förderer des Instituts.

image credit: Erwin Wenzl Preis Verein

Von Mario Holzner, geschäftsführender Direktor des wiiw

Unser Vorstandsmitglied Dionys Lehner, der am 18. April im Alter von 80 Jahren gestorben ist, konnte auf ein erfülltes und in außergewöhnlicher Weise selbstgestaltetes Leben zurückblicken. Eine jugendliche Wissbegierde, frei von allem Zynismus, hat er sich bis zuletzt erhalten. Das Streben nach Erkenntnis, verbunden mit dem Willen, auch gegen alle Einwände sofort zu handeln, hat ihn ausgezeichnet. Ich hatte das Privileg, viele Male mit ihm über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft Europas lange Gespräche zu führen – und ihn „Dino“ nennen zu dürfen. Wider alle Unzulänglichkeiten dieser Welt konnte er sich dabei immer freuen, wie unglaublich interessant unsere Zeit ist.

Dionys Lehner wurde 1942 im schweizerischen Luzern geboren. Er studierte Ende der 1960er Jahre an der Universität Zürich Betriebs- und Volkswirtschaft und promovierte 1970. Seine Dissertation schrieb er zum Finanzausgleich zwischen Bund und Kantonen im Hinblick auf eine Bundesfinanzreform. Schon damals wollte er die Welt, wie er sie vorgefunden hatte, zum Besseren verändern. Neben dem Studium arbeitete er als Journalist bei der Nachrichtenagentur Schweizerische Politische Korrespondenz. Diese Erfahrung lehrte ihn, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Maximal drei oder vier Themen ansprechen – oder besser nur eines. Anfang der siebziger Jahre machte er einen MBA-Abschluss an der Harvard Business School. Im Anschluss daran begann er eine Karriere als Berater bei McKinsey und weiteren Büros, wo er sich einen Namen bei Firmensanierungen machte. Anders als geplant, blieb er bei seinem letzten Sanierungsfall hängen.

Ab 1977 führte er als Vorstandsvorsitzender der Linz Textil Holding AG und CEO der Linz Textil Gruppe ein Unternehmen am Rande des Bankrotts, in einer Industrie am Rande der Existenz in Europa, in die schwarzen Zahlen und sicherte den Bestand langfristig ab. Sein Credo war es, die neuesten technologischen Möglichkeiten – oft sprichwörtlich über Nacht – zu realisieren. Neben Qualität und Service waren es vor allem die technologisch getriebene Produktivität und die Abkehr von modischen Fertigprodukten, hin zu hochindustriellen Halbfabrikaten, mit denen er die Linz Textil an die europäische Spitze führte. Obwohl die Probemaschinen, die manches Mal zum Einsatz kamen, noch gar nicht fertig entwickelt waren, brachten diese den entscheidenden Vorsprung.

Neben den Investitionen in moderne Maschinen hat das Insistieren auf dem Behalten von Firmen-Immobilien sowie das Schaffen von Reserven zu einem langsamen Hinaufschrauben der Eigenkapitalquote geführt. In einer Zeit, in der alle Welt auf Fremdkapital setzte und sich nicht um die langfristige Refinanzierung kümmerte, ist Lehner den umgekehrten Weg gegangen. Sein volkswirtschaftlicher Spürsinn hat ihm geholfen, die globale Finanzkrise bereits Mitte der 2000er-Jahre rechtzeitig zu erkennen und entsprechend zu handeln. Das Platzen der Blase im weltweiten Finanzsystem, das Lehner als eines der größten Probleme der heutigen Zeit identifizierte, hatte dann tatsächlich die letzten ernstzunehmenden Konkurrenten der Linz Textil in Europa verschwinden lassen.

Nicht, dass sich Lehner über diese Deindustrialisierung gefreut hätte. Im Gegenteil, diese Entwicklung hat ihn traurig gestimmt. Er war ein Industrieller im klassischen Sinn, der sich auch über das Wohlergehen der Arbeiterschaft Gedanken machte und Standorttreue hochhielt. Der Konzernsitz der Linz Textil blieb unter seiner Führung natürlich in Linz. Das Unternehmen ist der älteste noch existierende Industriebetrieb in der Stadt, gegründet 1838 als Kleinmünchner Baumwoll-Spinnerei. Die Linz Textil ist seit 1872 an der Wiener Börse notiert. Industriegeschichte war Lehners Steckenpferd. Er war federführend an der Herausgabe einer dreibändigen Österreichischen Industriegeschichte beteiligt, welche die Perioden 1700-1848 („Die vorhandene Chance“), 1848-1955 („Die verpasste Chance“) und 1955-2005 („Die ergriffene Chance“) erforschte. Ebenso war er mitverantwortlich für die Publikation einer Österreichischen Handelsgeschichte.

Lehner setzte sich aktiv dafür ein, dass die industrielle Basis Österreichs und Europas nicht nur in geschichtlichen Abhandlungen bestaunt werden kann. Im Vorstand des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche brachte er immer wieder neue Vorschläge für innovative Forschungsfragen ein. Insbesondere fungierte er als Spiritus Rector der wiiw-Initiative für eine „Europäische Seidenstraße“ als genuin europäisches Projekt, das durch Infrastrukturinvestitionen vor allem den Osten des Kontinents (re-)industrialisieren und beide Teile politisch und gesellschaftlich stärker zusammenwachsen lassen sollte. Kern der Idee war ein Netzwerk von Hochgeschwindigkeitseisenbahnstrecken, mit einer zentralen Route zwischen Lyon und Moskau.

Gemeinsam wurde die Idee erstmals bei einer Pressekonferenz in der Oesterreichischen Nationalbank am 2. Juli 2018 vorgestellt. Das wiiw hat eine Reihe von Publikationen zu ihren potenziellen Kosten, ihrem Nutzen, ihrer möglichen Finanzierung und ihren positiven Umwelteffekten veröffentlicht. Die ursprünglichen Schätzungen für dieses Großprojekt gingen von Kosten von rund einer Billion Euro aus. Wie so oft wurde die Vision Lehners von vielen anfangs belächelt. Mittlerweile wurde die Idee einer Europäischen Seidenstraße aber von renommierten internationalen Medien aufgegriffen und schaffte es als Politikempfehlung sogar in einen Leitartikel der Financial Times. Im Zuge der Bekämpfung der Pandemiefolgen und im Angesicht der enormen Herausforderungen der ökologischen und technologischen Transformation mobilisiert die Europäische Union seit 2021 Wiederaufbauhilfen von mehreren Billionen Euro. Mit der „Global Gateway“-Initiative hat die EU im selben Jahr endlich eine über ihre Grenzen hinausschauende Infrastrukturstrategie lanciert. Das Thema Hochgeschwindigkeitszüge für Europa ist in aller Munde, die Notwendigkeit, den Verkehr von der Straße und aus der Luft auf die Schiene zu bringen, ist mittlerweile Common Sense.

Allein, der Endbahnhof Moskau ist aus heutiger Sicht wohl eine traurige Illusion geworden. Lehner hatte in der engeren Zusammenarbeit mit Russland stets eine große Chance für Europa gesehen und in einer Welt des „America First“ und „China First“ auf eine Stärkung der europafreundlichen Kräfte in Russland gesetzt. Mit dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ist diese Hoffnung untergegangen und ein von Lehner lange befürchtetes Worst-Case-Szenario eingetreten. Ganz Aktivist im Herzen, bereitete er als Reaktion darauf einen Gastkommentar zum Ausbau der europäischen Stärken in Anbetracht all der übergroßen Herausforderungen unserer Zeit vor. Am 2. März 2022 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein gemeinsamer Gastbeitrag von Gertrude Tumpel-Gugerell, Dino Lehner und mir. Darin beschrieben wir vier Schritte, wie Europa international ernst genommen werden könnte und seine Macht dazu nutzen könnte, die Lösung der globalen Probleme des Klimawandels, des krisenanfälligen Finanzsystems und der kriegsbedingten Fluchtbewegungen voranzubringen - als friedlicher Moderator einer weltweiten Kooperation. Diese vier Punkte sind: ein partnerschaftliches Angebot an ein Russland nach Putin, eine Alternative zur chinesischen Seidenstraße, der Aufbau einer europäischen Armee und ein wirksamer politischer Entscheidungsprozess für die EU.

Trotz allem Enthusiasmus und dem Schmieden kühner Pläne war Dino alles andere als naiv. Er war sich der (Un-)Wahrscheinlichkeiten seiner Visionen stets bewusst. Ihm war auch klar, dass horizonterweiterndes Wissen nicht in einem luftleeren Raum entsteht: Er war ein Mäzen der Wissenschaften. Der Linzer Universität spendete er im Jahr 2019 eine Million Euro für die Krebsforschung. Auch dem wiiw spendete er fast eine Million Euro im Laufe der letzten Jahre. Er bedauerte zutiefst, dass im kleinen Österreich ein kleines volkswirtschaftliches Institut, das weltweit für seine unkonventionellen Ideen bekannt ist, zuhause so wenig Anerkennung erfährt. Im letzten „Global Go To Think Tank Report“ der University of Pennsylvania wurde das wiiw zum wiederholten Mal zum drittbesten internationalen wirtschaftspolitischen Think Tank gekürt. Dinos Wille war es, dass das wiiw durch seine beträchtlichen finanziellen Zuwendungen nicht nur im Ausland sondern auch in Österreich Anerkennung („Österreich, sei stolz auf das wiiw!“)  erfährt. Aufbauend auf die durch seine Spenden ermöglichte Professionalisierung unserer Öffentlichkeitsarbeit im Land und darüber hinaus, bemühen wir uns, diesem Vermächtnis weiter gerecht zu werden.

Mit Dionys Lehners Tod verliert das wiiw einen großen Freund und Förderer, einen pragmatischen Visionär und einen unbeirrbaren Weggefährten.

Wir trauern mit seiner Familie, seiner Frau Barbara, seinen Kindern und Enkelkindern.


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