Von der provisorischen zur tatsächlichen Ostöffnung
19 August 2019
Beim Paneuropäischen Picknick vor 30 Jahren sollten sich West- und Osteuropa symbolisch annähern. Dass die Ostöffnung unmittelbar bevorstand und wie holprig sie verlaufen würde, war damals noch nicht absehbar.
by Julia Grübler
photo: Tamás Lobenwein, Norbert Lobenwein, Pan-European Picnic 89 Foundation
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Geschickte politische Initiativen im Zuge des Abbaus überalterter Grenzsicherungsanlagen zwischen Ungarn und Österreich beschleunigten den Fall des Eisernen Vorhangs.
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Unmittelbar auf die Öffnung folgte in Osteuropa nicht Prosperität, sondern ein wirtschaftlicher Kollaps, dessen Ausmaß und langfristige Folgen vielerorts der Umsetzung der „Schocktherapie“ zugeschrieben werden.
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Der Mitte der 1990er-Jahre startende wirtschaftliche Konvergenzprozess hält bis heute an, allerdings in geschwächter Form seit der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise und mit starkem Stadt-Land-Gefälle.
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Der Aufholprozess osteuropäischer Länder außerhalb der EU fällt über die letzten 30 Jahre insgesamt bescheiden aus, was unter anderem den gewaltsamen Konflikten in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und im damaligen Jugoslawien und einer fehlenden EU-Beitrittsperspektive zuzuschreiben ist.
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Politisch werden insbesondere seit der „Migrationskrise“ im Jahr 2015 die Weichen neu gestellt, während neue Grenzzäune erbaut werden.
Ein Picknick als der Anfang vom Ende des Ostblocks
Bereits im Mai vor dreißig Jahren wurde der Abbau des Grenzzauns zwischen Österreich und Ungarn, mit der (offiziellen) Begründung, Instandhaltungskosten der Grenzsicherungsanlagen zu reduzieren, begonnen.
Die Entwicklung wurde jedoch geschickt für politische Inszenierungen genutzt: Am 27. Juni 1989 wurde von den Außenministern Ungarns (Gyula Horn) und Österreichs (Alois Mock) besonders medienwirksam ein Stück Grenzzaun des Eisernen Vorhangs zwischen der burgenländischen Gemeinde Klingenbach und dem ungarischen Sopron (Ödenburg) durchtrennt.
Weniger als zwei Monate später und kaum 10 Kilometer entfernt wurde am 19. August 1989 das Paneuropäische Picknick von der Paneuropa-Union und dem Ungarischen Demokratischen Forum organisiert. Hierbei sollte – behördlich genehmigt – die Grenze provisorisch für drei Stunden geöffnet werden. Dabei nutzten hunderte Bürger der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) die Möglichkeit zur Flucht.
Glücklicherweise kam es zu keinem gewaltsamen Einschreiten der Grenzbeamten. Trotz verstärkter Grenzkontrollen glückten fortan täglich über hundert Fluchtversuche von Ungarn nach Österreich bis am 11. September desselben Jahres die Grenzen für DDR-Bürger gänzlich geöffnet wurden.1)
Auch wenn man über die historische Bedeutung der Ereignisse vom 19. August diskutieren kann, einig ist man sich doch, dass sie die Entwicklungen in Richtung Fall der Berliner Mauer im November 1989, Wiedervereinigung Deutschlands im Oktober 1990 und Auflösung des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe und des Warschauer Pakts im Sommer 1991 beschleunigten.
Aller Anfang ist schwer – aber dieser war kaum tragbar
Der Osten war nun offen. Aber die Euphorie der Ostöffnung war nicht von unmittelbaren Wohlstandszuwächsen begleitet. Die Transformation von Plan- zu Marktwirtschaften (mit der auch der unmittelbare Wandel von Auto- zu Demokratie erwartet wurde) löste wahrlich einen für die Volkswirtschaften und ihre Bevölkerung schmerzhaften Schock aus.
Die in vielen Ländern rasant vollzogene – und unter dem Namen „Schocktherapie“ bekannte – massenhafte Privatisierung von Staatsbetrieben, Deregulierung und Handelsliberalisierung nach dem Washington Consensus gelang nirgendwo gänzlich ohne bittere nicht intendierte Nebeneffekte wie z.B. Anfälligkeit für Insiderdeals und Korruption, Preisverfall der zu privatisierenden Staatsbetriebe, Zusammenbruch der Industrieproduktion durch Konkurrenz aus dem Westen und Konsumrückgänge durch steigende Arbeitslosigkeit und Stadt-Land-Ungleichheiten.
Zu den frühen Kritikern der angebotsseitig orientierten Schocktherapie gehörte der frühere Direktor des wiiw (1991-1996) – Kazimierz Łaski – der entgegen der weitverbreiteten Meinung einen Rückgang der Produktion und eine anhaltende Rezession in den Transformationsländern für die 1990er-Jahre prognostizierte.2)
Beispielsweise in den heute für Österreich wirtschaftlich so bedeutenden Visegrád-Staaten schrumpfte das reale Bruttoinlandsprodukt über mehrere Jahre. Polen büßte im Jahr 1990 fast 11,6% der Wirtschaftsleistung ein und schrumpfte im Folgejahr um weitere 7%. Im Jahr 1991 brachen die Wirtschaften Tschechiens (-11,6%), Ungarns (-12%) und der Slowakei (-14,6%) dramatisch ein. Erst ab 1994 und bis zur jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise zeigten diese Länder ein starkes Wirtschaftswachstum – unter anderem durch stark steigende Investitionen aus dem Ausland und Transferzahlungen aus dem EU-Budget seit ihrem Beitritt im Jahr 2004.3) [Allerdings nur in den Jahren 2003-2006 und 2014-2018 wuchsen alle vier Visegrád-Ökonomien real schneller als Österreich.]
Abb. 1 Schmerzhafte erste Öffnungsjahre (Reales BIP-Wachstum in %)
Quelle: wiiw Jahresdatenbanken, WKO (basierend auf Statistik Austria und WIFO)
Kein Anfang, sondern eine Intensivierung österreichischer Beziehungen
Österreichs Wirtschaftsbeziehungen mit Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs sind nie gänzlich abgebrochen. Nicht zuletzt die geographische Lage und die historisch gewachsenen Beziehungen mit Osteuropa ermöglichten Österreich, die Ostöffnung schnell als wirtschaftliche Chance zu begreifen und eine Vorreiterrolle einzunehmen. Bis heute hält Österreich eine für seine Größe beachtliche wirtschaftliche Position in dieser Region.
So gehört Österreich beispielsweise unter die Top5-Handelsparter für Ungarn mit einem Anteil von zuletzt 4,9% an den ungarischen Exporten und 6,3% an den ungarischen Importen. Ein ähnliches Bild zeigt sich für die Slowakei (5,7% der Exporte und 10,0% der Importe) und Tschechien (4,5% der Exporte und 3,9% der Importe), für welche sich Österreich unter die Top10-Handelspartner reiht. Etwas weniger Bedeutung kommt Österreich in Polen zu, wo es allerdings immer noch sowohl auf Export- als auch Importseite mit jeweils 2% zu den Top20-Handelspartnern zählt.
Abb. 2 Die Entwicklung der Handelsbeziehungen der Visegrád-Staaten mit Österreich
Quelle: wiiw Jahresdatenbanken. Siehe auch: Österreich & MOSOEL (Open Data & Visualisierung)
Die wirtschaftliche Annäherung setzt sich fort, aber langsamer seit der jüngsten Krise
Durch wirtschaftliche Verflechtungen wie Außenhandel und ausländische Direktinvestitionen profitieren Länder wie Österreich vom Aufschwung in der östlichen Nachbarschaft. Misst man den wirtschaftlichen Aufholprozess am Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf zu Kaufkraftparitäten (KKP, d.h. korrigiert um unterschiedliche Preisniveaus der Länder), zeigt sich ein klarer Aufwärtstrend über die letzten drei Jahrzehnte und eine geringer werdende Diskrepanz zu westlichen Volkswirtschaften wie Österreich.
Das BIP pro Kopf zu KKP lag zum Zeitpunkt der Ostöffnung weit unter dem österreichischen Niveau (Abb. 3). Tschechien, die Slowakei und Polen haben seither mehr als 20 Prozentpunkte des österreichischen Niveaus aufgeholt, Ungarn etwa 14 Prozentpunkte. Die Wachstumsaussichten wurden mit der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise etwas gebremst. Sie bleiben aber weiterhin positiv (siehe Astrov und Grübler, 2019; Monthly Report No. 6/2019).
Abb. 3 Die Annäherung ist sichtbar aber noch lange nicht vollständig (BIP pro Kopf zu KKP)
Anmerkung: KKP = Kaufkraftparitäten; Quellen: wiiw und OeNB.
Die politischen Weichen werden gerade wieder gestellt
Die positive Wirtschaftsentwicklung darf aber nicht als Selbstverständlichkeit für die Zukunft angesehen werden. Mit der Ostöffnung und Transformation wurde die Umstellung auf das international dominierende System des liberalen Kapitalismus und Demokratie assoziiert. Es wurde allerdings relativ bald klar, dass diese sich nicht gegenseitig bedingen.
Wirtschaftlich haben sich „Varieties of Capitalism“ etabliert, während in manchen Ländern Nationalismus4) durch die Wirtschaftskrise seit 2007/08 und in noch stärkerem Ausmaß von der „Migrationskrise“ im Jahr 2015 beflügelt wurde. Dies gilt auch für Österreich und die Visegrád-Staaten, wie man am Beispiel der Errichtung neuer Zäune an den Grenzen zu Kroatien und Serbien 2015 oder den Rückzug aus dem UN-Migrationspakt Ende 2018 sieht.
Nationalistische Entwicklungen – mit zunehmenden Auseinandersetzungen mit der Europäischen Kommission – werden für die politische und auch wirtschaftliche Konvergenz oder Divergenz in Europa noch eine bedeutende Rolle spielen – für West- und Osteuropa, sowohl innerhalb der Pforten der EU, aber besonders an den teilweise von neuen Zäunen markierten östlichen und südlichen Außengrenzen.
Publikationen & Datenbanken:
wiiw Sommerprognosebericht 2019: Osteuropa trotzt dem globalen Gegenwind
wiiw Monthly Report No. 6/2019: Central, East and Southeast Europe: Recent Economic Developments and Forecast
wiiw Monthly Report No. 1/2016: Reality Check – wiiw Economists Reflect on 25 Years of Transition
wiiw Visualisierung und Open Data: Österreichs Wirtschaftsbeziehungen mit Mittel- Ost- und Südosteuropa
wiiw Annual Database: National accounts. Main indicators. GDP at PPS per capita.
wiiw Working Paper No. 36 (2005): Modelling GDP in CEECs Using Smooth Transitions [publiziert in: Journal of Comparative Economics, Vol. 35, No. 1, 2007, pp. 57-86]
1) Eine detaillierte Beschreibung von der Idee bis zur Verwirklichung des Paneuropäischen Picknicks von Laszlo Nagy: http://www.chronik-der-mauer.de/material/178896/laszlo-nagy-das-paneuropaeische-picknick-und-die-grenzoeffnung-am-11-september-1989?n
2) Siehe dazu zB: Laski K. (1997), „Lessons to be drawn from main mistakes in the transition strategy”. In: Zecchini S. (eds) Lessons from the Economic Transition. Springer, Dordrecht.
3) Siehe dazu zB: wiiw Monthly Report No. 1/2016 - Special Issue: “Reality Check – wiiw Economists Reflect on 25 Years of Transition” https://wiiw.ac.at/p-3766.html und Kornai J (1994), „Transformational Recession: The Main Causes”, Journal of Comparative Economics, Vol. 19, No. 1, pp. 39-63.
4) Siehe z.B. “wiiw Reality Check: Remembering transition” von Gabor Hunya.